"Der schönste Moment meines Lebens" - Reaktionen aus dem Libanon zur Revolution in Ägypten

Die Menschen im Libanon schwanken zwischen Neid, Begeisterung und Hoffnung nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten. Layla Al-Zubaidi hat sich auf den Straßen Beiruts umgehört und Stimmungen eingefangen. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus dem Naher Osten & Nordafrika.

Kurz nachdem in arabischen Fernsehkanälen die Nachricht verlautet wurde, die Ära des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak sei vorbei, atmete man auch in Beirut auf. Auf den Straßen scharten sich Passanten um Radios, und in Cafés mit Fernsehen versammelten sich die Gäste vor den Bildschirmen, um das Geschehen mit eigenen Augen zu verfolgen.

Mauer des Schweigens gebrochen

Das Jahr 2011 begann in der arabischen Welt mit spontanen Protesten in Tunesien, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit in einen Sturm der Revolution verwandelten und binnen weniger Wochen nicht nur den tunesischen Diktator Ben Ali sondern auch Ägyptens „Pharao“ Hosni Mubarak hinwegfegten. Auch wenn unklar ist, ob der Sturm weiterrollt, so hat er doch die Mauer der Angst gebrochen und stattdessen die arabischen Herrscher in Unruhe versetzt. Der jordanische König löste angesichts von Protesten das Parlament auf und kündigte politische Reformen an. In den Golfstaaten verteilen die Emire Geldgaben an das Volk. Auch der libysche Despot Muammar Gaddafi stellt Sozialhilfen bereit und kündigte an, die Zölle auf Lebensmittel aufzuheben. Im Jemen werden die bereits seit Wochen anhaltenden Proteste immer lauter. Die algerische Regierung entgegnet Demonstrationen mit Polizeigewalt und umgab ihre Botschaften in der arabischen Welt mit Stacheldraht. Die syrische Regierung unter Präsident Bashar al-Asad versprach die Einrichtung von Familienplanungs- und Sozialprogrammen an und erleichterte den Zugang zu Facebook und Twitter, verhinderte jedoch jegliche Versammlungen in Solidarität mit der ägyptischen Revolution.  

Libanesische Empathie

Der Libanon bleibt von dem Sturm weitgehend unberührt. Obwohl politische Partizipation im Libanon sehr eingeschränkt ist, hat dies weniger mit Diktatur als mit einem starren politischen System zu tun, das auf politischer Machtverteilung nach konfessionellem Proporz beruht. Immerhin brachte der libanesische Präsident Michel Suleiman als einziges arabisches Staatsoberhaupt schon vor dem Rücktritt Mubaraks seine Empathie für die Forderungen der ägyptischen Demonstranten zum Ausdruck. Die Reaktionen der verschiedenen libanesischen Parteien reflektieren jedoch die tiefe innenpolitische Kluft.

Nasrallah, Generalsekretär der Hisbollah, pries in einer eigens für den Anlass ausgestrahlten Ansprache am 7. Februar den „noblen Kampf“ des ägyptischen Volkes und versicherte ihm die Solidarität des „libanesischen Widerstands“, wie sich die schiitische Organisation selbst nennt. Ganz anders als Mahmud Ahmadinejad und Ayatollah Ali Khamenei im verbündeten Iran, vermied Nasrallah jedoch Vergleiche zur iranischen Revolution und machte keinerlei Anspielungen darauf, dass es sich um ein „islamisches Erwachen“ handele. Er betonte sogar besonders den pluralistischen Charakter der ägyptischen Revolution: „Wir sind Zeugen einer tatsächlichen Volksrevolution, einer wahrhaften ägyptischen nationalen Revolution. Muslime und Christen nehmen an dieser Revolution teil, ebenso wie islamische Faktionen, säkulare Parteien, und nationalistische Parteien […]. Vielmehr nehmen alle Teile der gesellschaftlichen Klassen an dieser Revolution teil: die Jungen, die Alten, Frauen, Männer, Kleriker, Künstler, Intellektuelle, Arbeiter und Bauern. Das wichtigste Element jedoch ist die Präsenz der Jugend.“

Revolution der freiheitsliebenden Menschen

Obwohl die Rede vornehmlich dem Zweck diente, den Friedenskurs Mubaraks gegenüber Israel zu geißeln, sah er anders als seine iranischen Verbündeten davon ab, die Bedeutung der ägyptischen Revolution rein auf diesen Aspekt zu reduzieren: „Die Freunde Israels und Amerikas – intellektuelle, politische Anführer und Medien, die den beiden Ländern nahe stehen – wollen die Welt davon überzeugen, dass die ägyptische Revolution eine Brotrevolution, eine Revolution der Hungrigen ist. Die Wahrheit kann die Welt jedoch von den Demonstranten am Tahrir-Platz erfahren. […] Wir erleben eine komplette, eine fundamentale Revolution. Es ist eine Revolution der Armen. Es ist eine Revolution der freiheitsliebenden Menschen. Es ist eine Revolution derer, die es ablehnen, gedemütigt und beleidigt zu werden da sich diese Nation dem Willen Amerikas und Israels ergeben hat. Es ist eine politische, soziale und menschliche Revolution. Es ist eine Revolution gegen alles – Korruption, Unterdrückung, Hunger, die Verschleuderung der Ressourcen des Landes, und gegen die Politik des Regimes zum arabisch-israelischen Konflikt.“ Gerade weil Nasrallah Mubaraks Regime as Diktatur verurteilt, wird er sich jedoch die Kritik gefallen lassen müssen, dass er weder bei der „grünen“ Revolution im Iran Solidarität zeigte, noch Forderungen nach mehr Demokratie in Syrien Beachtung schenkt.

Von jeher vertreten die Hisbollah und das Regime Mubaraks unvereinbare politische Positionen, insbesondere gegenüber Israel. Der Konflikt verschärfte sich, als in Ägypten zu Beginn des Jahres 2009 50 Personen unter der Anschuldigung verhaftet wurden, im Namen der Hisbollah die palästinensische Hamas mit Waffen und Geld beliefert sowie Terrorakte auf ägyptischem Boden geplant zu haben. Das Ägypten unter Mubarak gehörte auch zu dem Block der vornehmlich sunnitisch geprägten arabischen Staaten, die in dem Einfluss Irans eine Bedrohung sehen. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Hisbollah aus ihrer Freude über den Fall des ägyptischen Diktators keinen Hehl macht. Auch Nabih Berri, Parlamentssprecher und Anführer der mit der Hisbollah verbündeten Amal-Partei, pries das „Ende der ausländischen Hegemonie über Ägypten“.

Auch die gegnerische 14. März-Koalition veröffentlichte nach dem Rücktritt Mubaraks Gratulationsadressen an das ägyptische Volk. Obwohl auch einige Mitglieder des pro-westlichen Lagers ihrer Hoffnung Ausdruck gaben, dass sich Ägyptens Haltung gegenüber Israel verändere, hielten sie sich allgemeinhin bedeckter. Saad al-Hariri, Anführer der Koalition und noch amtierender Premierminister, sowie sein enger Wegbegleiter Fuad Seniora betonten die Notwendigkeit eines demokratischen Machtwechsels, um die Stabilität des Landes zu gewährleisten. Seniora war der einzige, der auch die „Errungenschaften“ Mubaraks und seine „guten regionalen und internationalen Beziehungen“ lobte.

Kampf der Mumie gegen das Leben

Sicher ist, dass nicht wenige Libanesen vor einer Veränderung der regionalen Machtkonstellationen fürchten, darunter die sunnitische Gemeinschaft, die sich angesichts des Kollapses der Regierung unter Saad al-Hariri in Bedrängnis sieht. Auch die christlichen Parteien werden Unbehagen hegen vor einer eventuellen Stärkung der ägyptischen Muslimbrüder. Diese Haltung findet zwar in der Presse (noch) kaum Ausdruck in direkten Kommentaren, es ist jedoch auffällig dass die pro-westliche al-Nahar Zeitung weniger ausführlich und enthusiastisch über die Ereignisse in Ägypten berichtet als die links-säkulare Zeitung al-Akhbar, die dem „libanesischen Widerstand“ nahesteht und die ausgewogene Zeitung al-Safir. Deren Titelseiten tragen einen Tag nach dem Rücktritt Mubaraks Überschriften wie „Die arabische Welt atmet den Hauch der Freiheit“ und „Die Neugeburt der arabischen Welt“. Insbesondere al-Akhbar berichtete sehr nah an den Forderungen der Jugend und nannte das Festhalten Mubaraks an der Macht den „Kampf der Mumie gegen das Leben“.

Leidenschaftliche Anteilnahme

Auch wenn der Libanon in seiner eigenen Krise gefangen ist - oder vielleicht gerade deswegen – verfolgen viele Libanesen gebannt und leidenschaftlich die Ereignisse in der arabischen Nachbarschaft. Mit seiner hautnahen Berichterstattung trug der katarische Nachrichtensender Al-Jazeera den Kampf auf den Straßen Tunesiens und Ägyptens in jeden libanesischen Haushalt. Ägypten, im arabischen auch „Mutter der Welt“ genannt und Zentrum des Panarabismus, galt lange als Herz der arabischen Welt. Politische Entwicklungen strahlten stets in die arabische Welt aus. In Ägypten produzierte Filme, Fernsehserien und Musik verbreiteten die Kultur des Landes in der Region, und der ägyptische Dialekt etablierte sich als lingua franca. Einiges vom ägyptischen Mythos schwingt noch nach; das Land am Nil hat jedoch viel von seiner einstigen Ausstrahlung eingebüßt. Syrische Fernsehproduktionen haben in den vergangenen Jahren ägyptischen den Rang abgelaufen, und der Libanon gilt inzwischen mehr als Ägypten als regionaler kultureller Mittelpunkt. Im Libanon gehören ägyptische Arbeiter zur Unterschicht, die auf dem Bau, an Tankstellen, in Küchen oder als Hausmeister schuften, und denen durchschnittliche Libanes/innen mit Geringschätzung begegnen.  

Wie ein Fußballspiel über mehrere Wochen

„Jetzt bist Du wieder die Mutter der Welt, Ägypten!“ ruft ein junger Mann in einem Beiruter Café, wo der Jubel auf den Kairoer Straßen live übertragen wird, und stößt mit seinen Freunden an. Nachdem sich die Nachricht vom Rücktritt Mubaraks verbreitet, spaziere ich durch den Beiruter Stadtteil Hamra, um Eindrücke zu sammeln. Dort treffen sich am Wochenende Journalisten, Kulturschaffende und Intellektuelle, um die politische Wetterlage der Region zu debattieren. Am Tisch des jungen Mannes kursiert der neueste Witz: „Beim nächsten Gipfel der arabischen Liga wird es zum ersten Mal seit 30 Jahren eine Vorstellungsrunde geben“. Als ich ihn frage, warum er sich als Libanese so freue, antwortet er „Es spielt keine Rolle, aus welchem Land wir kommen. Heute sind wir alle eins. Und zum ersten Mal in meinem Leben bin ich stolz darauf, Araber zu sein. Uns hatte schon jegliche Hoffnung verlassen. Wir waren wie tot. Jetzt spüren wir wieder, dass wir eine Seele haben.“ Khaled Ahmad, der Besitzer des Cafés, ist erschöpft. „Endlich. Es ist, als ob man über Wochen hinweg ein Fußballmatch verfolgt und nicht weiß, wie es ausgeht. Jetzt können wir wenigstens wieder schlafen.“

Der Autor Hussein Yaqoub legt seine Zeitschrift beiseite. „Viele libanesische Kommentatoren kommen mit ihren alten Argumenten nicht weit. Diejenigen, die die arabische Welt mit westlicher Brille betrachten und den Arabern demokratisches Denken absprechen, wollen nicht zugeben, dass die Geschichte ihnen gerade das Gegenteil beweist. Die linken Intellektuellen, die nur den Klassenkampf sehen, kommen nicht damit zurecht, dass die gebildeten Mittelschichten zusammen mit den Armen protestieren. Und die Islamisten verstehen die Welt schon gar nicht mehr, weil sie in den Protesten so gut wie keine Rolle spielen. Warum können wir nicht einfach alle zugeben dass wir überrascht sind und die weiteren Auswirkungen nicht genau voraussehen können? Wir müssen alles neu überdenken, auch unsere Terminologie. Der al-Safir beschreibt die Ereignisse in Tunesien und Ägypten immer noch als ‚Coups’. Das rührt daher, dass es in unserem kollektiven Gedächtnis stets militärische Coups waren, die Wandel eingeleitet haben. Aber was wir momentan erleben sind keine Umstürze, sondern friedliche Volksrevolutionen.“

Die Verhältnisse haben sich umgedreht

Der libanesische Theaterregisseur und Schauspieler Fadi Abi Samra jedenfalls gibt zu, dass er zutiefst überrascht ist: „Innerhalb eines Monats haben sich die Verhältnisse in der arabischen Welt umgedreht. Zum ersten Mal fürchten sich die Herrscher vor ihrer Bevölkerung. Es war amüsant, dass der jemenitische Präsident prompt ankündigte, dass weder er noch sein Sohn bei den nächsten Wahlen kandidieren würden. Kurz danach erklärte auch Iraks Premierminister Maliki, er werde bei den nächsten Wahlen nicht mehr kandidieren. Unsere Angst ist gebrochen, das ist die Hauptbedeutung der Ereignisse. Davon hätten wir nie zu träumen gewagt. Natürlich müssen wir abwarten, wie es jetzt weitergeht und ob sich tatsächlich Demokratien entwickeln. In Tunesien und besonders in Ägypten beginnt jetzt die schwierigste Zeit, und es wird sicherlich interne Kämpfe um die Macht geben. Aber in Zukunft wird ein arabischer Herrscher es sich zweimal überlegen, bevor er ewig an seinem Stuhl festhält, seinen Sohn einsetzt, oder hemmungslos das Volk bestiehlt. Die Zeit der Straflosigkeit ist vorbei.“

Respekt für die Generation Facebook

„Es ist, als ob die arabischen Herrscher ihren Realitätssinn verloren hätten und ihre Völker nicht mehr verstehen“ bemerkt Karim Makdisi, Professor an der Amerikanischen Universität in Beirut. „Sie müssen sich damit abfinden, dass wir heute in einer anderen Zeit leben. Die Ära der politischen Regierungsparteien, die geheime Pläne schmieden und an der Öffentlichkeit vorbei entscheiden, ist mit Wikileaks und den neuen Medien einfach vorbei. Dies bestätigt Doreen Khoury, Aktivistin und Mitarbeiterin der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie steht in engem Kontakt mit den tunesischen und ägyptischen Bloggern, sich in den gegenwärtigen Revolutionen hervor taten: „Endlich bekommen diese jungen Leute den Respekt der ihnen gebührt. Jahrelang wurden sie von der älteren Generation der politischen Aktivist/innen belächelt, die behaupteten dass Blogs und Facebook nur Spielzeuge der arabischen Elite sei. In letzter Zeit sind diese Jugendlichen jedoch die einzigen, die öffentlich dagegen protestieren dass sich die arabischen Herrscher benehmen wie Ludwig XIV., der den Ausdruck prägte ‚L’état, c’est moi’. In den letzten Wochen haben wir etwas Außergewöhnliches erlebt: Die arabische Straße und die neuen Medien verbreiten gemeinsam eine klare Message: Diese Herrscher sollen verschwinden! Natürlich spielen die veränderten wirtschaftlichen Bedingungen eine Rolle, dass es dazu kommen konnte. Aber es hat auch mit der Klarheit der Botschaft zu tun, dass diese Dinosaurier, die sich über die Jahrzehnte hinweg durch nichts erschüttern ließen, so schnell zusammen brachen.“

Reif für die Demokratie

Fawwaz Trabulsi, Professor an der American University of Beirut, fügt hinzu: „Noch nie ist ein arabischer Herrscher von seinem eigenen Volk zur Rechenschaft gezogen worden. Es ist eine wichtige Entwicklung, dass es den Tunesiern und Ägyptern nicht ausreicht, dass die Diktatoren verschwinden. Sie verlangen zudem, dass die Despoten vor Gericht gestellt und ihre Privatvermögen eingefroren werden. All dies zeigt, dass die unter hiesigen Despoten und im Westen populäre These, die Araber seien nicht ‚reif’ für die Demokratie, reine Unterdrückungspropaganda ist. Das Volk weiß ganz genau was Demokratie ist, auch die Armen. So schwer zu verstehen sind die Prinzipien der Freiheit und Würde ja auch nicht. Es sind die Regime allein, die unreif sind für die Demokratie.“ Auch wundert er sich, warum die internationale und arabische Öffentlichkeit plötzlich über die Ausmaße der Korruption und der Privatvermögen von Ben Ali und Mubarak überrascht ist. Kritisch ist er vor allem gegenüber der bisherigen Linie der USA und EU, die Korruption mit Entwicklungs- und Militärhilfen unterstützt zu haben. „Aber selbst im Libanon“, fügt er hinzu, „wo nicht der Diktator, sondern ein politisches Camp gegen das andere unterstützt wird, scheint es niemanden zu stören, wie korrupt die gegenwärtige Politik ist.“

Libanon ist nicht die Avantgarde der arabischen Demokratie

In einer Gruppe libanesischer Student/innen, die ich bitte, die Ereignisse aus ihrer Sicht zu kommentieren, bricht plötzlich Streit aus. Einige argumentieren, dass es die so genannte libanesische Zedernrevolution im Jahr 2005 war, die die gegenwärtigen Volksrevolutionen inspiriert habe. Andere sind über den Vergleich empört. Ghassan Jaber, Student an der Lebanese University entgegnet: „Die Tunesier und Ägypter sind trotz der westlichen Unterstützung für die Diktatoren auf die Straße gegangen. Im Libanon ist die Zedernrevolution durch die unterstützende Intervention der westlichen Mächte und die Übernahme der libanesischen politischen Parteien erstickt worden. Außerdem einigten die Massenrevolutionen in Tunesien und Ägypten das Volk. Bei uns haben die Massenrevolutionen spaltend gewirkt. Sobald ein politisches Lager auf die Straße geht, mobilisiert das andere am nächsten Tag noch mehr Menschen.“ Seine Kommilitonin Suad Abdallah ärgert sich auch darüber, dass „sobald eine junge Frau im Libanon in kurzem Rock oder tiefem Dekolleté demonstriert, sie auf allen Titelseiten libanesischer und westlicher Zeitungen abgebildet wird. Stets feiert sich der Libanon als ‚zivilisierte Ausnahme’ in einem Ozean der Barbaren. Stets heißt es auch im Westen ‚Die Libanesen sind am demokratischsten, denn sie sind und sehen aus wie wir!‘ Heute sehen wir, wie viele Frauen in Tunesien und Ägypten demonstrieren und dass wir keineswegs die Avantgarde sind.“ Die Gruppe ist sich jedoch einig, dass alle arabischen Staaten dem tunesischen Gemüsehändler Muhammad Al-Bouazizi ein Denkmal errichten sollten. „Die Statuen der Diktatoren müssen weg. Wir haben neue Helden, die mit der alten Garde nichts zu tun haben. Sie freuen sich für die Tunesier und Ägypter. Neid schimmert jedoch auch durch: „Dort besteht jetzt zumindest die Möglichkeit, neue und demokratische Systeme aufzubauen. Angeschmiert sind vor allem wir Libanesen und auch die Iraker mit unseren konfessionalistischen Systemen. Denn auch wenn wir im Libanon keine Dikatur haben, so werden die konfessionalistischen Gemeinschaften doch auch seit Jahrzehnten von denselben Familiendynastien dominiert. Die Politiker die uns heute regieren, tragen die gleichen Nachnamen wie diejenigen, die schon drei Generationen zuvor an der Macht waren. Wir haben also nicht einen Diktator, sondern hunderte.“

"Meine Kinder haben eine Zukunft!"

Der Libanese Marwan Abi Samra, der für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in Kairo arbeitet und kurz nach dem Beginn der Proteste evakuiert wurde, berichtet, wie schwer es ihm fiel, Kairo zu verlassen: “Es bricht mir das Herz, dass ich nicht mehr dabei sein kann. Die Tage am Tahrir-Platz gehören zu den schönsten Momenten meines Lebens. So etwas habe ich noch nie erlebt. Millionen von Menschen auf der Strasse, ohne Parteien oder Gruppen anzugehören. Da war ein Vater, der ein Schild hochhielt, auf dem schlicht stand ‚Jetzt haben meine Kinder eine Zukunft’. So saß er tagelang da und harrte aus, kommunizierte mit allen, schloss sich aber keiner Gruppe an. Er wollte einfach nur ausdrücken, was er zu sagen hatte. Die Menschen kamen als Individuen und gleichzeitig als Teil eines großen Ganzen. Die meisten westlichen und arabischen Medien schreiben, dass es bei den Protesten um Arbeit und Demokratie geht. Das stimmt, aber es geht um weitaus mehr. Vor allem wollen diese jungen Leute zu ihrem Land gehören. Das hat mich am tiefsten berührt. Kairo ist normalerweise eine der schmutzigsten Städte der arabischen Welt. Am Tahrir-Platz jedoch, mit all den Millionen Protestierenden, hat man kein einziges Taschentuch auf dem Boden gesehen. Jeder achtete auf Sauberkeit. Als ob sie zum ersten Mal fühlen, dass es ihre Stadt, ihr Land ist. Genau dies fehlt uns Libanesen. Uns fehlt es nicht an Meinungsfreiheit, aber wir haben nicht das Gefühl, dass dieses Land uns gehört und wir für sein Schicksal verantwortlich sind. Das was man Staatsbürgerlichkeit nennt.“

Bedeutend wie der Mauerfall

Wie sich der Fall Mubaraks auf Syrien auswirken wird, ist derzeit unklar. Sollte es zu innenpolitischen Veränderungen in Syrien kommen, könnten sich die Beziehungen zu politischen Akteuren im Libanon verändern. Derzeit erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass die Protestwelle auch Syrien erfassen wird. Das Land ist fest im Griff der verschiedenen Geheimdienste, die Opposition ist schwach und uneins. Ähnlich wie in Ägypten betont das syrische Regime, dass islamistische Kräfte an die Macht kämen, sollte es geschwächt werden, und schürt Bürgerkriegsängste. „Auch wenn dies politische Taktik ist, ist die Lage in Syrien tatsächlich kompliziert“, kommentiert der in Beirut lebende syrische Journalist Ali Atassi, „und die Syrer haben die blutige Niederschlagung der Opposition in den 1980er Jahren noch nicht vergessen.“ Trotzdem ist er sich sicher, dass sich das Regime in Damaskus zumindest langfristig auf die veränderten Umstände wird einstellen müssen. „Wer hätte gedacht, dass ein junger verzweifelter Tunesier mit seiner Selbstverbrennung bewirkt, dass Mubarak abdankt?“ fragt er. „Die Ereignisse sind vergleichbar mit der Kettenreaktion, die der Fall der Berliner Mauer ausgelöst hat. In unseren Köpfen ist die ‚Berliner Mauer‘ gefallen. Sie wurde jedoch nicht nur von unseren eigenen Autokraten errichtet. An ihr mitgebaut hat der Westen, der aus Angst vor dem Islamismus die Demokratie gegen die Formel ‚Diktatur und Stabilität‘ eingetauscht hat. Jahrzehnte lang wurde uns vermittelt, dass wir die Demokratie nicht verdienen, weil wir nicht verstehen was mit ihr anzufangen ist. Die Tunesier und Ägypter haben sich ihre Würde zurückerobert. Ich habe mit meinen Kindern getanzt, ihre Zukunft erscheint nun hoffnungsvoll. Es reicht nicht mehr, lauwarmen Dialog anzubieten und kosmetische Reformen anzukündigen. Tunesien und Ägypten haben gezeigt dass die arabischen Bevölkerungen mehr wollen. Syrien ist ein sehr harter Brocken. Aber heute ist wenigstens der Gedanke nicht mehr unmöglich, dass alles möglich ist. Wer weiß - vielleicht sogar, dass sich eines Tages Syrien wandelt?“

Bye-bye und bis zur nächsten Revolution

Ich versuche, die letzten Exemplare der libanesischen Zeitungen zu ergattern, die fast alle ausverkauft sind. Der Zeitungshändler entschuldigt sich – aber heute sei schließlich ein historischer Tag. Sollte der demokratische Wandel in Ägypten tatsächlich Erfolg haben, kommentiert er, hätte dies Auswirkungen auf alle Menschen in der Region. Zu Silvester habe er mit alten Freunden die Lieder Sheikh Imams gehört, der berühmte ägyptische Komponist, der in den 1960er und 1970er Jahren besonders für die Arbeiter, Bauern und den Entrechteten spielte und mehrmals inhaftiert wurde: „Wir hörten das Lied, in dem er singt ‚Steh auf Ägypten und sei stark’. Plötzlich überkam mich eine Depression und der dunkle Gedanke, dass wir Araber Jahr um Jahr mehr in der Vergangenheit leben und vergeblich von der Revolution träumen. Ich rief ‚Sheikh Imam ist tot, verdammt noch mal!’ und schaltete die Musik aus. Jetzt erkenne ich, dass ich Unrecht hatte. Sheikh Imam lebt noch. Zumindest hier oben.“ Er tippt sich an den Kopf, zwinkert, und verabschiedet mich mit einem „Bye-bye und bis zur nächsten Revolution, so Gott will.“